Politische Bildung für die Wirklichkeit. Konflikt in der Perspektive von jungen Menschen in Wien


Lara Kierot & Dirk Lange, Didaktik der Politischen Bildung, Universität Wien

In den letzten Jahren prägen multiple Krisen und Konflikte die gesellschaftlich-politische Wirklichkeit. Kriege, Pandemie, Umweltkatastrophen, Amokläufe: Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Konflikte spielen dabei eine zentrale wie auch komplexe Rolle. Konflikte sind ein sehr breites und ambivalentes Feld, sie fordern eine Gesellschaft heraus und irritieren sie, sie können aber auch einen wichtigen Beitrag für Demokratisierungsprozesse leisten. Entsprechend wichtig ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Konflikt. Für ein konstruktives sowie alltags- und lebensweltorientiertes Lernen ist dabei vor allem die Perspektive der Lernenden selbst zentral. Eine Bedingungsanalyse zum Thema Konflikt gibt Orientierungspunkte für die Politische Bildung.

Alltag und Lebenswelt: Subjektorientierung als Lernanlass
 

Wien ist ein Ort, der Raum für diverse Lebensrealitäten, Bildungshintergründe und Lernräume bietet. So vielfältig eine Demokratie ist, so sind es auch die Perspektiven und Erfahrungen, welche in dieser sozialisiert werden. Politische Bildung greift hier ein. Sie ist kein Fach zum Auswendiglernen, welches die reine, einseitige Wissensvermittlung von Lehrkräften an junge Menschen zum Ziel hat. Im Fokus steht die Förderung der politischen Mündigkeit, die Lernenden werden dabei unterstützt, auf Basis demokratischer Prinzipien innerhalb gesellschaftlicher und politischer Diskurse ihre eigenen Interessenslagen, unter Berücksichtigung kontroverser Perspektiven, auszubilden und lernen, diese im Austausch mit divergierenden Haltungen begründet zu vertreten. Wichtig sind hierbei die sogenannten subjektiven Vorstellungen von Lernenden zu politischen Themen. Sie sind Denkwerkzeuge, welche die Lernenden in den Lernprozess in Form von Gedanken, Ideen, Erfahrungen, Bedürfnissen und Wissen einbringen und dort die Möglichkeit erhalten sollen, ihre subjektiven Vorstellungswelten weiterzuentwickeln. 

Neue Studie: Konflikt als Thema unserer Zeit


Eine Studie von der Universität Wien in Kooperation mit dem Demokratiezentrum Wien erfasste das Thema Konflikt in der Perspektive von jungen Menschen im Alter von 15 bis 26 Jahren in Wien. Diese Altersspanne der Zielgruppe wurde gewählt, da in Wien mit 15 Jahren die Schulpflicht endet und zugleich die Ausbildungspflicht beginnt. Mithilfe von 2 Teilstudien wurden die subjektiven Vorstellungen von mehreren Lernendengruppen untersucht. Die Studie wurde in einem mehrstufigen qualitativen Prozess im Zeitraum zwischen Januar 2023 und Januar 2025 in Wien durchgeführt. In der 1. Forschungsphase wurde in Form einer explorativen Fragebogenstudie (N=39) eine Vorstudie durchgeführt. Daran anknüpfend wurde in der 2. Phase eine problemzentrierte Interviewstudie (N=17) nach Witzel (2000) durchgeführt. Das Sample wurde so ausgewählt, dass unterschiedliche Schultypen des österreichischen Bildungssystems sowie der Lernraum Universität erreicht und gleichzeitig unterschiedliche Wiener Bezirke umfasst wurden. Neben Einladungen zur Studienteilnahme auf zielgruppenspezifischen Social-Media-Kanälen wurden Multiplikator*innen im Wiener Bildungskontext als Gatekeeper für den Kontakt mit der ausgesuchten Zielgruppe angefragt. Dadurch wurden Lernende einer Allgemeinbildenden höheren Schule (N=7), einer Berufsschule (N=5), einer Universität (N=3) und einer Mittelschule (N=2), die gleichzeitig ein reformpädagogisches Schulversuchsmodell war, interviewt. Die Standorte der erreichten Bildungseinrichtungen umfassten innerhalb der Stadt Wien den 22., 20. und 1. Bezirk.

Beide Studien wurden mit Hilfe einer inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. In einem 1. Schritt konnten in der Fragebogenstudie die subjektiven Vorstellungen von 39 Personen so analysiert werden, dass sie deren thematische Breite in einem 1. Überblick offenbarten. Darauf bezogen konnte die problemzentrierte Interviewstudie tiefergehend die Besonderheiten und inhaltlichen Zusammenhänge von insgesamt 17 subjektiven Vorstellungswelten zum Konflikt ableiten. Auf dieser empirischen Basis wurden 2 übergreifende Grundcharaktere von Sinnbildungstypen gruppiert:  Konflikt als Herausforderung und Konflikt als Möglichkeitsraum. Sie machen dadurch gezielt Bedürfnisse und Weiterentwicklungsperspektiven sowie Anknüpfungspotenziale der zielgruppenspezifischen subjektiven Vorstellungen sichtbar. Darauf aufbauend wurden schließlich die folgenden basalen Vorstellungskomplexe abgeleitet:
  • Selbstschutz und Distanzdenken zum Thema Konflikt
  • Individuelle und zwischenmenschliche Kontexte als Denk- und Handlungsstrategien
  • Kollektiv organisierte Konflikte und Kriege auf politischer und globaler Ebene als Abstraktionsfallen
  • Machtlosigkeit als Basis geringer Selbstwirksamkeit von jungen Menschen
  • Alltägliche Lebenswelt als greifbarer Konfliktraum 
Sie fassen die thematischen Kerngebiete der analysierten subjektiven Vorstellungen auf einer Metaebene zusammen. Als komprimierte Form der Studienergebnisse sind sie schließlich die Grundlage, für die im letzten Schritt entwickelten Bildungsimpulse zum Thema Konflikt. 

"Den Umgang mit Konflikten lernen":  Möglichkeitsräume einer Politischen Bildung für Heute und Morgen


Diese Impulse sind eine didaktische Orientierung dafür, dass zukünftige Lehr- und Lernprozesse zum Thema Konflikt an die vorgefundenen subjektiven Vorstellungen inhaltlich anknüpfen können. In der Studie wurden dafür folgende Bildungsimpulse für die Politische Bildung formuliert:
  • Konflikt als kontinuierlicher und vielschichtiger Lernanlass
  • Selbstwirksamkeiten stärken: zwischenmenschliche Kommunikation als Basis für soziale Konflikte nutzen lernen
  • Abstraktionsfallen begegnen: "Politik" und "Macht" thematisieren
  • Lernräume alltagsorientiert nutzbar machen
     
Betrachtet man diese Impulse, so zeigen die Studienerkenntnisse, dass junge Menschen in unterschiedlichen Wiener Bildungsräumen konkrete Vorstellungen zum Thema Konflikt antizipieren. Zugleich zeigt sich, dass sie hierbei aber auch Unsicherheiten hinsichtlich eigener Denk- und Handlungsperspektiven im Umgang mit Konflikten sichtbar machen. Vor allem überindividuellen, politischen beziehungsweise globalen Konflikten stehen sie oft ohnmächtig sowie distanziert gegenüber, gleichzeitig sehen sie bei Konfliktformen wie der Klimakrise Handlungsbedarf. Wiederum formulieren sie innerhalb zwischenmenschlicher und inter-personeller Konflikte konkrete Lösungsperspektiven und reflektieren über eigene Selbstwirksamkeiten. Auch innerhalb des eigenen Lernraums können sie einen Umgang mit Konflikten im Einklang mit ihren eigenen Interessen konkretisieren. Die oben genannten Impulse setzen direkt dort an. Das Thema Konflikt soll entsprechend in seiner thematischen Breite und Ambivalenz als kontinuierliches Lernen verhandelt werden. Zugleich soll es nicht als "abstraktes Schicksal" benannt, sondern die Bedingungen und Entwicklungsprozesse offen diskutiert werden, beispielsweise welche Zusammenhänge es zwischen interpersonellen und politischen Konflikten geben kann und welche Rolle beispielsweise gesellschaftliche Diskurse zwischen mehreren sozialen Gruppen dabei spielen. Schließlich wird dazu ermutigt, dass Lernende in ihrem eigenen Lernraum gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien entwickeln und erproben können. Konflikte werden hier als Lerngegenstand sowie auch als Lernanlass und Veränderungspotenzial verstanden, während der Lernraum als geschützte Umgebung für die Herausbildung eigener Selbstwirksamkeiten im Umgang mit komplexen Herausforderungen und Themen der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit gestaltet werden muss.
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